Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Abgeordnete, meine Damen und Herren, 

ich begrüße insbesondere die Schülerinnen und Schüler, deren Beitrag wir gerade gehört haben. Es ist für mich eine Ehre heute hier wieder sprechen zu dürfen. Ich habe im Vorfeld überlegt, was ist denn das, was mir am meisten durch den Kopf geht? In diesem Jahr 2021, am 9. November diesen Jahres.

Für mich hat sich ein Thema herausgestellt, oder zwei, die ich überschreiben möchte mit der Überschrift „Wissen und Nichtwissen“. 

Beides hat einen Anknüpfungspunkt an meinen eigenen Werdegang, aber insbesondere auch an ein Projekt, dass vor wenigen Wochen in Lünen bekannt geworden ist und auf das ich gleich auch noch zu sprechen kommen möchte. 

Wissen und Nichtwissen:

Ich bin Jahrgang 1950. Wenn ich in die Runde schaue – einige sind im selben Jahrgang geboren – oder Drumherum. Es wird Ihnen wie mir gegangen sein: Wir hatten manchmal als Kinder, als Jugendliche, als Schülerinnen und Schüler den Eindruck, diese Zeit 1933 bis 1945 hätte es gar nicht gegeben, sondern da ist irgendwann ein Bruch gewesen. 

Dann begann in den 50er Jahren das Wirtschaftswunder. Aber was war eigentlich davor?

Diejenigen die sich beruflich als Lehreinnen und Lehrer und in anderen Zusammenhängen mit der Geschichte auseinandergesetzt haben, die wissen, dass die Bezeichnung „Pogromnacht“, Reichspogromnacht, lange Jahre in unseren Schulbüchern, so nicht enthalten war! Sondern dort wurde die nationalsozialistische Bezeichnung „Reichskristallnacht“ übernommen.  

Diese böse, bitterböse Bezeichnung, für das was an diesem Tag weitaus mehr passiert war und was gerade dargestellt worden ist, was zu Vertreibung und zu Mord geführt hat – in Lünen und in ganz Europa mit über 6 Mio. Toten allein im Bereich der jüdischen Bürgerinnen und Bürger. 

Und wir erinnern uns, Sie erinnern sich an die Gespräche, die dann doch mal mit den Eltern, mit den Großeltern zustande gekommen sind, wo dann Einzelheiten, Details erzählt wurden und das Ganze oftmals auch verbunden war mit dem Satz: 

„Ja, aber eigentlich wussten wir es nicht.“
„Wir wussten es nicht, dass das solche Dimensionen, und solche Größenordnungen angenommen hat.“

Ein Studienfreund von mir, der mit mir zusammen – auch mit Siggi Störmer, dem langjährigen stellvertretenden Bürgermeister der Stadt Lünen – Geschichte studiert hat, hat einmal für Dortmund untersucht, wie das denn eigentlich war, mit diesem „Wissen und dem Nichtwissen.“ Er hat ein Aufsatz geschrieben: „Öffentlichkeit und Judenvernichtung im Nationalsozialismus.“

Seine Bewertung ist eindeutig. Er schreibt über den Abtransport in den Osten: „Die Deportationen vollzogen sich in aller Öffentlichkeit. An ihnen waren regionale und kommunale Behörden intensiv beteiligt.“ 

Und ich kann Ihnen und will Ihnen und will mir das auch nicht ersparen, die mal zu nennen, die da beteiligt daran waren, weil es dann deutlich wird, wie es mit dem „Wissen und Nichtwissen“ war:

Gestapo Dortmund, Regierungspräsident Arnsberg, Landrat von Berleburg, Ortspolizeibehörden, Bürgermeisterämter, Gaststädte „Zur Börse“ in Dortmund, der ein Sammelpunkt war, Reichsbahndienststellen, Ernährungsamt, Speditionsfirmen, Bauunternehmen, Busunternehmen, Finanzämter, Meldeämter, die Deutsche Bank und andere und – nicht zu vergessen – schreibt er: die Dortmunder Öffentlichkeit – auf dem Weg der Deportation vom Hauptbahnhof zum Sammelpunkt.

Und das ist ja auch etwas gewesen – jetzt komme ich zum zweiten Anknüpfungspunkt – der die Schülerinnen und Schüler und die sie begleitende Lehrerin Frau Riekermann auch so getroffen und betroffen gemacht hat bei ihrer Arbeit um die Frage:

„Hat es auch in Lünen Zwangsarbeit gegeben?“

Wenn ja, wo haben denn diese Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter „gewohnt“, „gelebt“ (in Anführungszeichen) und das das ganze anscheinend so nicht bekannt war, obwohl es an mehreren Stellen im Stadtgebiet, stattgefunden hat und man es ja eigentlich hätte wissen müssen! 

Wir sind alle der Arbeitsgruppe „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ der Geschwister Scholl Gesamtschule, den Schülerinnen und Schülern und Frau Riekermann, außerordentlich dankbar dafür, dass sie deutlich gemacht haben, dass diese eigentlich überzeugende Hypothese, „das muss auch in der Industriestadt Lünen stattgefunden haben“, sich bewahrheitet hat. Mindestens 3.800 Menschen in sieben Lagern untergebracht, nicht versteckt, sondern mitten im Wohngebiet, die, die wir in Lünen leben, geboren sind, wissen wo diese Standorte waren und wo diese Standorte sind.

Lassen sie mich nochmal auf den Anknüpfungspunkt des eigenen Werdeganges zurückkommen: Ich habe in den Jahren um 2000 herum den damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Paul Spiegel, kennengelernt. Ein beeindruckender Mensch! Mit einer Überzeugungskraft, mit einem Einführungsvermögen, mit einem festen Willen, wie ich ihnen danach kaum wieder bei jemandem festgestellt habe. 

Und dann das Jahr 2003. Es war das dritte Jahr in der Zeitreihe von 2000 bis 2006. Also den Jahren, in denen die schrecklichen Morde des NSU stattgefunden haben. Weder Paul Spiegel wusste das, weder ich, viele andere nicht, welchen Zusammenhang es gab, bei den Morden. Aber in dieser, auch im Nachhinein so mörderischen Zeitphase, sprach Paul Spiegel davon, dass es wieder eine Renaissance des jüdischen Lebens in Deutschland gibt. Jüdisches Leben findet statt in Deutschland, in der Bundesrepublik Deutschland und in Nordrhein-Westfalen. Die Freude darüber war ihm anzumerken. Aber einen Tag nachdem im Landtag Nordrhein-Westfalen dazu eine Debatte stattgefunden hat, mit einem Antrag der damals von allen demokratischen Fraktionen des Landtages eingebracht wurde, sprach ich am Tag darauf mit ihm über seine eigene Sicherheit. 

Ob die Schutzmaßnahmen, die Sicherheitsmaßnahmen 2003 ausreichend waren, für ihn und viele andere jüdische Bürgerinnen und Bürger. 2003- 2021: der Bürgermeister hat vorhin erwähnt, die Dinge, die dazwischen passiert sind. 

Und deshalb, meine Damen und Herren, ist es so wichtig, dass wir uns darüber unterhalten müssen – „Was wussten wir? Was wussten wir nicht?“ – dass so etwas nie wieder passiert. 

Und insofern – wenn es einen Bürgerpreis der Stadt Lünen gibt – ich würde ihn, meine Damen und Herren, dieser Gruppe von Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern, die sie begleitet haben, überreichen, die erneut dafür gesorgt haben, dass wir in Lünen einen weiteren Punkt oder Orte des Erinnerns haben! Wie auch dieser Ort ja, der – sie werden sich erinnern – erstritten werden musste, als Mahnmal, ein Ort ist, in dem wir uns seit 1993 auch erinnern können, gedenken, so wie wir es heute auch tun. 

Wir haben Gott sei Dank eine Reihe von Orten und Anlässen geschaffen. Ich denke an das tolle Projekt „Kinder der Turnstunde“. Michael Kupczik, Jochen Otto von der Bürgermeister Harzer-Stiftung, und viele andere, die dort mitgewirkt haben, und das sei auch denjenigen gesagt, die oftmals in solchen Diskussionen davon sprechen: 

„Ist das jetzt nicht genug? Muss das jetzt nicht genug sein? Muss das nicht ein Ende haben?“ 

NEIN!!!

Es darf kein Ende haben, mindestens was das Erinnern, was das Gedenken anbelangt und nicht nur das, sondern auch was sich daraus ergibt und was wir daraus auch an Handeln tun müssen. 

Und das ist der Schritt vor dem wir jetzt in dieser Stadt stehen: Die Jugendlichen, die Schülerinnen und Schüler wollen ja nicht Schluss machen mit ihrer Arbeit, sondern haben einen Vorschlag gemacht, wie dort weitergedacht wird und ich würde es icherlich mit ihnen zusammen außerordentlich begrüßen, wenn die Gremien der Stadt Lünen, des Rates der Stadt Lünen, dieser Initiative auch folgen, ohne nun im Einzelnen schon festzulegen, wie dieses Gedenken aussehen soll. 

Aber ich glaube es würde dieser Stadt und uns allen gut tun, wenn wir diesen Schritt, den die Schülerinnen und Schüler vorgeschlagen haben, nun auch weitergehen. 

Meine Damen und Herren, wir haben in Berichten, im Fernsehen, in den Zeitungen vom hundertsten Geburtstag von Margot Friedländer gehört. 100 Jahre alt. Eine Überlebende, die mit 89 Jahren beschließt, ich übersiedle von New York wieder nach Deutschland, nach Berlin. 

Unvorstellbar(!), dass ein Mensch – ich sage jetzt mal – der in ganz anderen, „normalen“ Umständen aufgewachsen und gelebt hätte, einen solchen Schritt macht – und das macht eine Frau mit dieser Geschichte, mit eigener, erlebter Geschichte. 

Und sie hat in den Interviews, die sie gegeben hat und auch in den Erzählungen, in den Veranstaltungen, in den Schulen, die Sie besucht, auch deutlich erzählt, warum sie das macht. Ich darf das mal aus dem Bericht der Süddeutschen Zeitung so vorgetragen. Dort wird geschrieben über Margot Friedländer:

„Sie packt drei Mal die Woche ihre Tasche, liest aus ihrem Buch, beantwortet Fragen und irgendwann kommt der Moment in dem Sie zu den Jugendlichen sagt: 
Wenn ihr das gehört habt, werdet ihr Euch fragen, warum ich zurückgekommen bin? Ich bin zurückgekommen, um Euch die Hand zu reichen und Euch zu bitten, dass ihr Zeitzeugen seid, weil wir nicht mehr lange hier sein werden.“

Das ist glaube ich die Botschaft, die wir heute und anderen Orten des Gedenkens in Deutschland mitnehmen.

Ja, sie werden bald nicht mehr unter uns sein. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die am beeindruckendsten darstellen können, was passiert ist. 

Wir haben das bei verschiedenen Gelegenheiten hier in Lünen erlebt. Aber die Bitte, die sie äußert, hat mich bewegt!

Sie sagt nicht, „schreibt das auf, filmt das ab, macht Avatare in Museen“ – das passiert teilweise auch, soll möglicherweise so sein, als ein Weg – sondern Sie bittet die Jüngeren, den sie ausdrücklich sagt: „Eure Generation trägt keine Schuld, an dem was passiert ist.“ Sie bittet diese Jugendlichen: „Nehmt die Fackel als Zeitzeugen weiter und macht da weiter, wo ich, wenn ich mal sterbe, nicht weitermachen kann.“ 

Lassen sie uns das von Margot Friedländer für uns aufgreifen. Es wird notwendig sein, damit wir reagieren, auf das, was auch heute hier an diesem Mahnmal passiert ist. Indem wir uns bemühen, Rahmenbedingungen zu schaffen, im Zusammenleben, im Respekt voreinander, in der klaren und eindeutigen Auseinandersetzung mit denen, die dort anderer Meinung sind. 

Ende der 70er Jahre erschienen zum ersten Mal die Ergebnisse der so genannten Sinus-Studie. 

Über 13 % der Menschen in Deutschland – das war das Ergebnis dieser Sinus-Studie – haben einen gefestigten, rechtsextremistischen Kern. Meine Damen und Herren, es gibt keinen Rechtsextremismus ohne Antisemitismus! Auch das müsste klar sein, als Ergebnis dieser Studie. Diese Studie ist eine Zeitlang ausgesetzt worden, die Untersuchungen sind dann wieder aufgenommen worden. 

Bislang hat jede Sinus-Studie, die diese Fragestellung hatte, genau dieses Ergebnis gehabt!

13% und mehr der Menschen in Deutschland haben ein gefestigtes, rechtsextremistisches Gedankengut.

Meine Damen und Herren, das macht deutlich: Die Forderungen „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie wieder Antisemitismus“ ist keine von gestern, sie ist die von heute und auch der Zukunft. 

Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.