(Artikel aus den Ruhr Nachrichten vom 10. November 2018 – mit freundlicher Genehmigung)

Im Rahmen der Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht in Lünen hat die »Schule ohne Rassismus-AG« des Gymnasiums Lünen-Altlünen mit mehreren Aktionen auf das Thema aufmerksam gemacht. Abschließend hat die Schülerin Lorina Losch ihre literarischen Interpretationen auf der Gedenkveranstaltung vorgetragen.

Die tragischen Schicksale der Reichspogromnacht in Lünen

Eine Interpretation von Lorina Losch (Gymnasium Lünen-Altlünen)

Waldemar Elsoffer:

Hinter mir vernahm ich lautes Geschrei: „Raus mit den Juden! Raus mit den Juden!“ Ich drehte mich nicht um. Zu genau war mir die Gewalt auf dem Marktplatz in Erinnerung: das Feuer, die Schreie, das Lachen, das Klirren von kaputten Fenstern… Ich wünschte, es wäre vorbei, doch das war es nicht. Hinter Aronstein und mir tauchte ein weiterer S.A.-Mann auf, der sich Schmidt anschloss. Meckler, glaub ich, hieß er. Aber was taten Namen schon zur Sache? Für sie hießen wir doch auch nur ‚Juden‘. „Schneller!“, rief Schmidt hinter mir. Ich bemühte mich, die Straße der S.A schneller entlang zu gehen und mich nicht meiner lähmenden Angst hinzugeben. Ich fühlte mich wie ein Tier, getrieben von Menschen, deren Befriedigung im Leben es war, ihre Macht gegenüber denen, die nie etwas getan hatten, auszuleben. Tiere, die mit verabscheuungswürdigen Worten klassifiziert und mit allen anderen ihrer sogenannten „Rasse“ in den gleichen Käfig gesteckt wurden. Ich hatte es geahnt, nicht gewusst, aber geahnt. Dieses ungute Gefühl, das in mir herrschte, seit ich von der Ermordung von Ernst vom Rath durch Grynszpan gehört hatte. Er war ein Jude gewesen, das gefundene Fressen, um den Hass gegen uns nun noch brutaler als schon davor auszuleben. Als ob wir alle gleich wären. Als ob wir etwas dafür könnten, als was wir geboren sind. Als ob –
„Linksrum!“, riss mich eine wirsche Stimme aus den Gedanken. Vorsichtig hob ich den Kopf. Vor mir ragte die dunkle Silhouette der Lippebrücke empor, still und bedrohlich, wie sie vorher noch nie wirkte. Wie uns befohlen, bogen wir auf den Deich vor der Brücke ab. Am liebsten hätte ich Aronstein angeguckt, um zu sehen, ob er auch solch eine wahnsinnige Angst hatte wie ich, aber ich befürchtete eine weitere Bestrafung. Was würde nun geschehen? Was wollten sie uns nur erst antun, wenn sie den armen Feldheim schon ins Feuer gestoßen hatten?
„Rechtsrum und rein in den Bach!“, vernahm ich wieder diese vor Hass triefende Stimme Schmidts. Abrupt blieben wir stehen und starrten entsetzt in die dunkle, vor uns liegende Lippe. Das konnten sie doch nicht ernst meinen. Es war November, die Lippe hatte bestimmt noch nicht mal 5°C und es war stockfinster. Aber sie meinten es ernst. Das wurde mir klar, als ich, schneller als es zu realisieren war, mit einem Ruck über die Ligusterhecke hinweg flog und bis kurz vor der Lippe den Deich hinabrollte. Bis ich verstehen konnte, was gerade passiert war und ich mich wieder aufgerappelt hatte, mussten ein paar Minuten vergangen sein, denn nun stand Aronstein neben mir und ergriff mit zitternden Fingern meine Hand. Zusammen blickten wir auf das tiefe, dunkle Wasser vor uns, was in seichten Bewegungen hin und her schwank. Was eine Kontroverse, verbarg sich in den Bewegungen doch so viel Tückisches. Ich wollte da nicht rein, wollten wir beide nicht, doch Schmidts energische Stimme schnitt wieder durch die Nacht: „Rein da jetzt, durch den Jordan und wieder zurück!“ Was blieb uns also anderes übrig? Ja, meine Damen und Herren, was hätten wir anders machen können, um dieser Tragödie zu entkommen? Es war unmöglich sich gegen die Nationalsozialisten aufzulehnen. Wir wurden als Parasit beschrieben und genauso behandelt und klein getreten. So stiegen wir ins eiskalte Nass der Lippe. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht in Schnappatmung zu verfallen und mich unkontrolliert zu bewegen. Die Kälte so gut wie möglich ignorierend, schwamm ich los. Weit kam ich nicht, da riss es mich von meiner Stelle weg. Wasser brach über meinem Kopf zusammen. Verzweifelt versuchte ich wieder an die Oberfläche zu kommen, doch länger als ein paar Sekunden schaffte ich es nie, an der Oberfläche zu bleiben. Wie verrückt versuchte ich, das Ufer auszumachen, aber ich schaffte es nicht. Je länger ich versuchte zu kämpfen, desto mehr sackte ich ab. Das Wasser war über mir, unter mir, rechts und links von mir. Überall um mich herum eiskaltes Wasser. Wo war oben, wo war unten? Wo musste ich hin? Meine Lungen begannen zu brennen, alles in mir schrie nach Luft. Ich würde sterben, wenn ich keine Luft mehr bekam. Ich würde sterben! Diese Erkenntnis brannte sich wie nichts Schrecklicheres davor in mich ein. Was würde aus meiner Familie werden? Ich musste doch auf sie aufpassen, wie sollten sie sonst nur in dieser grausamen Welt überleben? Doch ich würde sterben! Müdigkeit brach über mich herein, meine Glieder wurden schwach und trotz, dass ich es nicht wollte, öffnete sich mein Mund. Wasser drang in mich ein, füllte meine Lungen, aber das war in Ordnung. Egal, wo ich jetzt hinkommen würde, nichts konnte schlimmer sein, als das, was hier in Lünen geschehen war. Nichts konnte schlimmer sein, als das, was in ganz Deutschland geschehen war. Doch was blieb, war meine Familie, allein gelassen von mir in einem hasserfüllten Land, gegenüber aller derer, die nicht ihren Werten entsprachen. Was, wenn das alles erst der Auftakt gewesen war? Ich begann zu beten, dass auch meine Familie einen besseren Ort finden würde, während um mich herum alles schwarz wurde.

Siegmund Kniebel:

Ein Riesenkrach riss mich aus dem Frieden meiner Träume. Krampfhaft versuchte ich zu begreifen, was hier vor sich geht, als es laut klirrte. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich gedacht, dass gerade eine große Scheibe Glas zerbrochen wurde. Dann waren da Stimmen. Viele Stimmen. Laute Stimmen. Aufgebrachte, hasserfüllte Stimmen. Zu den Stimmen gesellte sich weiteres Klirren, dumpfe Aufschläge, Geschabe, Gekratze. Man könnte meinen, Gegenstände wurden durch die Gegend geschoben, weggeworfen und kaputt gemacht und zwar direkt unter mir. „Boom, Boom“ – und jetzt waren da Schüsse. Schüsse vor meinem Fenster, Schüsse unter mir, Schüsse überall. War das ein Traum oder schoss das Schwein durch die Decke?
Und plötzlich ging alles so schnell. Just in dem Moment, in dem meine Tochter in unser Schlafzimmer kam und sich in die zitternden Arme meiner Frau warf, die vom Lärm ebenfalls aufgeschreckt, schlotternd und bangend neben mir im Bett lag, brach mit einem lauten Knax unsere Wohnungstür auf. Drei vermummte Gestalten traten ins Schlafzimmer und während ich mich noch aufrichten wollte, um mich davon zu überzeugen, dass das alles hier doch ein schlechter Traum war, schrien sie: „Jude Kniebel, im Bett bleiben!“ Neben mir begann meine Tochter zu wimmern. „Wenn Sie ruhig sind, dann tun wir Ihnen gar nichts.“, sagte eine der Gestalten. Dann plötzlich, direkt auf die Beruhigung folgend, war da ein Knall. Nein, nicht einer, zwei, vielleicht drei oder vier. Ohrenbetäubend laut fraßen sie sich so unwirklich in meinen Verstand wie das ganze Geschehen. Erst als ich die Nässe an meinem Bauch spürte, das Rot an meiner Hand sah und die schnellen sich entfernenden Schritte meiner immer noch wimmernden Tochter hörte, wurde mir langsam bewusst, was passiert war. Und während das Einatmen mir immer schwerer fiel, komisch röchelnde Laute aus meiner Kehle immer lauter wurden und eine bleierne Müdigkeit meine Augenlieder immer schwerer machte, wurde mir klar, dass jede versprochene Hilfe zu spät kommen würde, denn ich war Jude gewesen, ein Parasit, den es zu beseitigen galt und das hatte man getan, ungeachtet der Situation, ungeachtet des Menschen, der ich bin. Einfach nur, weil ich Jude bin.

Albert Bruch:

Mit größter Vorsicht lugte ich beunruhigt durch die schmalen Spalten der Jalousien in meinem Schlafzimmer. Der Blick, der sich unter mir auf der Straße zeigte, war brutaler als alles, was ich mir jemals hätte vorstellen können. Auf der Straße war eine riesen Ansammlung an Menschen. Vermummte Gestalten, Gestalten in Uniform, Gestalten in Zivil. Alle hatten sie sich vor Kniebels und meinem Laden versammelt und alle strahlten sie so eine Gewaltbereitschaft aus, dass ich nicht mal mehr um mein Leben bangen konnte, da der Tod mir schon so gewiss war, wie mir noch nie etwas gewiss gewesen ist. Der Asphalt der Straße war voller Glasscherben. Wie funkelnde Kristalle glitzerten sie im Mondlicht und wären nicht die aufgebrachten Menschenmassen gewesen und die Gegenstände, die im regelmäßigen Abstand aus Kniebles oder meinem Laden folgten, wäre es fast so gewesen, als wollen mir die Glasscherben eine ehrenvolle Sterbekulisse bieten. Doch das Wort ehrenvoll in Verbindung mit den Nationalsozialisten zu nennen, wäre die allergrößte Lüge gewesen, denn Menschen auf etwas abzustufen, wofür sie nichts können und was in keinster Weise etwas mit ihrem Charakter zu tun hat, Menschen deswegen weh zu tun, seelisch sowie körperlich, sie gar zu töten, ist das Feigste, was es nur gibt. „Was wollen Sie hier?“, fragte ich den Mann, der mit solch einer Unverfrorenheit, wie es nur ein Feigling tun konnte, mit lautem Krachen in mein Schlafzimmer eingedrungen war. Ich hätte ihn noch gerne gefragt, ob er nun wirklich den letzten Schritt zur Feigheit und Schwäche machen wollte, doch da zog er seine Pistole und besiegelte sein Schicksal selbst und ich starb. Weil ich Jude bin. Und ich starb mit Stolz geschwellter Brust, nicht weil ich Jude war, sondern weil ich mit der Gewissheit starb, dass ich friedlich neben meinem Peiniger hätte wohnen können, er es aber nicht konnte.