Der 9. November !!
Ein freudiges Datum war der 9. November 1989 für die Deutschen. An diesem Tag (heute vor 25 Jahren) fiel die Berliner Mauer, ein Jahr später war Deutschland wiedervereinigt. Ohne einen Schuss – ohne einen Toten.
Der 9. November 1938 gehört dagegen zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte. In der “Reichspogromnacht” brannten jüdische Geschäfte und Synagogen, wurden Menschen gequält und ermordet – auch hier in Lünen. Das Pogrom steht für den Antisemitismus in Deutschland und den Wandel hin zu einer Entwicklung, die in einer “Endlösung der Judenfrage” im Sinne der Ermordung der europäischen Juden im deutschen Machtbereich mündete.
Am 9. November 1923 scheiterte der “Hitlerputsch” in München, dessen Ziel die “nationale Revolution”, d.h. die Absetzung der Bayerischen Regierung und der Reichregierung war.
Fünf Jahre zuvor rief Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die erste Deutsche Republik aus. Die sog. “Novemberrevolution” 1918 führte das Deutsche Reich von einer konstitutionellen Monarchie in eine parlamentarisch-demokratische Republik.
Welche wechselvolle Geschichte im Zeitraum eines Menschenlebens von gut 70 Jahren !!
“Die Würde des Menschen ist unantastbar”.
So lautet Art. 1 unseres GG von 1949.
Und auch die Weimarer Verfassung von 1919 garantierte in Art. 109, “dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind”, in Art 114 heißt es: “Die Freiheit der Person ist unverletzlich” und schließlich garantierte Art. 135 “die Glaubens- und Gewissensfreiheit.”
Zwischen diesen 30 Jahren (1919 – 1949) liegen 12 Jahre einer terroristischen Nazi-Diktatur, die bereits kurz nach der Machtübernahme im April 1933 mit dem Boykott jüdischer Kaufleute, Ärzte etc begann, sich über die Entlassung jüdischer Beamter und dem Berufsverbot jüdischer Künstler fortsetzte, sich verschärfte durch das sog. “Blutschutzgesetz” und das “Reichsbürgergesetz”, was die jüdische Bevölkerung zu Menschen 3. Klasse degradierte durch Entzug ihrer Bürger- und Menschenrechte.
Es sei daran erinnert, dass diesem barbarischen NS-System neben Millionen von Kriegsopfern und ca. 6 Millionen Juden aus ganz Europa auch Kranke, Kommunisten und Sozialdemokraten, Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas u.a. zum Opfer fielen.
Auch eine Vielzahl von Menschen aus unserer Stadt war davon betroffen, es können Freunde, Nachbarn oder Mitschüler unserer Eltern und Großeltern gewesen sein.
Hier an dieser Stelle, dem Mahnmal an der Lippe, gedenken wir speziell der Opfer der von den Nazis zynisch so genannten “Reichskristallnacht” vom 09. November 1938
Albert Bruch und Siegmund Kniebel, ermordet in Lünen-Süd in der heutigen Jägerstr.
Waldemar Elsoffer, hier in die Lippe getrieben und ertrunken
und der Jude Aronstein starb später an seinen Verletzungen, die er in dieser Nacht erlitten hatte.
Nur wenige Zahlen zum Vergleich: in Lünen lebten 1931 216 Juden, 1935 noch 139 bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 47000.
Wie kam es zu diesem Pogrom? Ein kurzer Rückblick.
Kurz vor der Reichspogromnacht wurden nach dem sog. Anschluss Österreichs zigtausende Juden aus dem Land nach Polen abgeschoben und ihre Pässe verloren ihre Gültigkeit.
Auch die Familie Grynspan aus Hannover war davon betroffen, was ihren Sohn Herschel dazu veranlasste, ein Attentat auf den deutschen Legationsrat Ernst vom Rath in Paris zu begehen.
Dieses nahmen die Nazis zum Vorwand, um in der Reichspogromnacht etwa 7000 jüdische Geschäfte und Gemeindeeinrichtungen zu zerstören, etwa 30000 Juden aus ihren Wohnungen herauszuprügeln und in KZ’s zu verschleppen.
Und da sich auch danach kaum Widerstand im In- und Ausland zeigte, war es wohl die “Generalprobe” für den später von den Nazis als “Endlösung” bezeichneten industriell durchgeführten und penibel bürokratisch organisierten Massenmord an ca. 6 Millionen europäischen Juden.
Ich will an dieser Stelle versuchen, das Unfassbare, was sich hinter diesen Zahlen verbirgt, sichtbar werden zu lassen am Beispiel einer einzigen Lüner jüdischen Familie. Es ist die Familie Feldheim. Sie steht exemplarisch für das grausamste und schändlichste Verbrechen, was bisher im deutschen Namen verübt wurde. Die Nennung des Stammbaums ist nicht vollständig. Ihre Namen finden sich in der Gedenkliste der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in Lünen, die 76 Namen umfasst.
Elfriede Feldheim, geb. Wolff, 1875, wohnhaft in Lünen, deportiert Juli 1942 nach Theresienstadt und im Mai 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz
Selma Feldheim, geb. 1884 in Lünen, deportiert September 1940 nach Brandenburg. Sie fand dort ihren Tod durch Euthanasie
Ernst Feldheim, geb. 1887 in Lünen, 1943 deportiert ins Vernichtungslager Auschwitz
Albert Feldheim, geb. 1892 in Lünen, Januar 1942 deportiert nach Riga
Alfred Feldheim, geb. 1898 in Lünen, kam März 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz
Lina Feldheim, geb. Katzenstein, geb.1899, Ehefrau von Alfred, kam März 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz
(beide wurden schon 1939 zur Zwangsarbeit nach Bielefeld umgesiedelt, 1941 auch ihre Kinder)
Eva Feldheim, geb.1931 in Lünen, deportiert März 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz
und Ruth Feldheim, geb.1932 in Lünen, ebenfalls wie die Eltern und Schwester März 1943 deportiert ins Vernichtungslager Auschwitz
Lassen sie mich aus dem geretteten Poesiealbum von Eva die letzte Eintragung vom 12.02.1943, also 3 Wochen vor ihrer Deportation nach Auschwitz, zitieren:
“Unter Birken, Buchen, Linden wirst du einst ein Blümlein finden was ganz leise zu dir spricht – liebe Evi Vergißmeinnicht” von Horst Rosenstein
Dass es anders kam wissen wir heute.
Und dass wir heute hier wieder stehen an diesem Mahnmal, welches historisch gesehen zwar spät, dann aber doch am 10.11.1993 eingeweiht wurde, zeigt, dass wir nicht vergessen wollen und nichts vergessen haben.
Viele werden sich erinnern an die denkwürdige Veranstaltung mit Lea Rosh, die aus ihrer Dokumentation “Der Tod ist ein Meister aus Deutschland” las, an die Akteure des Lüner Theaterforums, an aktive politische Unterstützer des Projekts, an Privat- und Geschäftsleute, ohne deren finanziellen Beitrag das Projekt nicht zu realisieren gewesen wäre. Hier geht mein Dank besonders an den damaligen Förderverein mit Franz Messen, Karl-Ernst Backmann u.a., die enorme Summen für das Mahnmal zusammen trugen und damit die Realisierung sicherten.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch an jemanden erinnern, der sich schon früh für die Aussöhnung mit den Opfern unseres verbrecherischen Nazi-Regimes eingesetzt hat: der ehemalige Bürgermeister Hans-Werner Harzer.
Heute wissen wir sowohl um die Bedeutung und den Erinnerungswert dieses Mahnmals, als auch der zwar spät aber dann doch begonnenen Aufarbeitung unserer braunen Geschichtsflecken, der Auslobung eines “Heinrich-Bußmann-Gedächtnispreises” an Bürger oder Gruppen, die sich aktiv gegen Fremdenfeindlichkeit einsetzen und vieles mehr.
Auch wenn zwischen Tat und Errichtung dieses Mahnmals 55 Jahre lagen:
Wir dürfen nicht nachlassen, uns der schrecklichen Epochen unserer Geschichte zu erinnern
– als Mahnung, dass so etwas nie wieder passieren darf
– zur Erinnerung daran, dass nicht nur woanders auf der Welt heute noch grausamste Verbrechen im Namen politischer, ethnischer und religiöser Machtansprüche begangen werden, sondern dass derartiges auch vor unserer eigenen Haustür passiert ist durch aufgebrachte und über Jahre hinweg ideologisch indoktrinierte Menschen, die heute unsere Nachbarn sein könnten.
Und vergessen wir auch nicht, wer heute wieder gerne zündelt mit rechten Parolen, mit ausländerfeindlicher Hetze und Gewalttaten und zunehmend auch wieder mit antisemitischen Äußerungen.
Ich bin froh, dass in unserer Stadt seit gut zwei Jahrzehnten an dieser Stelle der Ereignisse des 09. November 1938 gedacht wird und hier insbesondere auch immer wieder Schulen und Schülerinnen und Schüler ihren Beitrag zur Mahnung und zum Gedenken beitragen. Mein Dank geht auch an die Musikschule und ihre Schülerinnen und Schüler, die sich ebenfalls seit Jahren aktiv beteiligen.
Erinnern und danken möchte ich in diesem Zusammenhang auch Schülerinnen und Schülern, die sich im Rahmen der von den GRÜNEN angeregten und der Bürgermeister-Harzer-Stiftung finanzierten Anne Frank Ausstellung im letzten Jahr als Peer Guides engagiert haben und von denen fünf sogar in Berlin die Auszeichnung “Anne Frank Botschafter” für ihr Engagement erhalten haben. Auch dieses ist ein Baustein einer Erinnerungskultur, die mit Aktionen wie Stolpersteinen, Errichtung des Judenmahnmal, Würdigung von Opfern bei der Vergabe von Straßennamen, Pflege eines jüdischen Friedhofs u.a. zeigt, dass Vergessen in unserer Stadt keinen Platz hat und Erinnern zum Glück gelebt und immer wieder sichtbar wird.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler,
Ich habe die große Hoffnung, dass wir alle und gerade die jüngere Generation aus unserer Geschichte die richtigen Lehren ziehen und immun sind gegen rechtsradikale, fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen. Und dass wir uns mutig derartigen Umtrieben heute und in Zukunft in den Weg stellen. Viele Lüner Schulen widmen sich diesen Themen offensichtlich sehr intensiv und sind als “Schule gegen Rassismus” besonders ausgezeichnet. Auch dafür allen Engagierten Dank!
Gerade allerjüngste Entwicklungen zeigen, dass auch der demokratische Rechtsstaat seine Wehrhaftigkeit gegen Neonazis und andere Gegner der Demokratie nicht vernachlässigen darf sondern seine Wachsamkeit schärft und seine strafrechtlichen Mittel wirkungsvoll einsetzt.
Dann können – so hoffe ich – Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion, Hautfarbe, sexueller Orientierung friedlich in unserer Stadt zusammen leben. Und niemand sollte mehr Angst haben vor einem Mop, wie er sich auch in Lünen vor gut 75 Jahren austoben konnte an einem Tag wie dem 09.11.1938
Ich danke Ihnen für ihre Geduld und Aufmerksamkeit.
Heinz-Joachim Otto
09.11.2014