Kuratorium Bürgermeister-Harzer-Stiftung neu besetzt

Nach dem Ausscheiden lang gedienter Mitglieder hat sich das Kuratorium neu konstituiert. 

Neben Siegfried Störmer als neuem Vorsitzenden wurde Astrid Herbers , langjährige Aurubis – Chefin ,zur Stellvertreterin berufen. Dem Gremium gehören erstmals Heidi Sumann, Leiterin der Viktoriaschule, Kenan Kücük, Geschäftsführer Multi-Kulti und Norbert Mecklenburg,  Leiter der Volksbank-Niederlassung in Lünen, an.

Als geborene Mitglieder runden Rüdiger Billeb als SPD-Fraktionsvorsitzender und Norbert Janßen als SPD-Parteivorsitzender das Kuratorium ab.

In ihren Ämtern bestätigt wurden Heinz-Joachim Otto als Vorstand und Christian Voß als Geschäftsführer.

Die Stiftung, die am 21. März 1999 gegründet wurde, wird in 2 Jahren ihr 25-jähriges Jubiläum feiern. 

„Das soll in einem angemessenen Rahmen erfolgen“, so Siegfried Störmer. Eine Liste mit den in den vergangenen über 20 Jahren geförderten Projekten zeigt eindrucksvoll die Leistung der Stiftung. „Ohne engagierte Unterstützung unserer Mitglieder und Sponsoren aus dem städtischen Umfeld wäre das nicht möglich gewesen“, so Störmer.  Für den Herbst  plant die Stiftung ein „Dankeschön – Treffen“ mit ehemaligen Gremienmitgliedern aus Kuratorium und pädagogischem Beirat. „Das ist versprochen, konnte aber wegen Corona bislang nicht realisiert werden“, so Vorstand Heinz-Joachim Otto.

Foto von links nach rechts:
Rüdiger Billeb, Jochen Otto, Astrid Herbers, Heidi Sumann, Siegfried Störmer, Norbert Janßen, Norbert Mecklenburg, Kenan Kücük, Christian Voß

Rede von Staatsminister a.D. Wolfram Kuschke Gedenkveranstaltung der Stadt Lünen für die Opfer der Reichspogromnacht (9.11.2021)

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Abgeordnete, meine Damen und Herren, 

ich begrüße insbesondere die Schülerinnen und Schüler, deren Beitrag wir gerade gehört haben. Es ist für mich eine Ehre heute hier wieder sprechen zu dürfen. Ich habe im Vorfeld überlegt, was ist denn das, was mir am meisten durch den Kopf geht? In diesem Jahr 2021, am 9. November diesen Jahres.

Für mich hat sich ein Thema herausgestellt, oder zwei, die ich überschreiben möchte mit der Überschrift „Wissen und Nichtwissen“. 

Beides hat einen Anknüpfungspunkt an meinen eigenen Werdegang, aber insbesondere auch an ein Projekt, dass vor wenigen Wochen in Lünen bekannt geworden ist und auf das ich gleich auch noch zu sprechen kommen möchte. 

Wissen und Nichtwissen:

Ich bin Jahrgang 1950. Wenn ich in die Runde schaue – einige sind im selben Jahrgang geboren – oder Drumherum. Es wird Ihnen wie mir gegangen sein: Wir hatten manchmal als Kinder, als Jugendliche, als Schülerinnen und Schüler den Eindruck, diese Zeit 1933 bis 1945 hätte es gar nicht gegeben, sondern da ist irgendwann ein Bruch gewesen. 

Dann begann in den 50er Jahren das Wirtschaftswunder. Aber was war eigentlich davor?

Diejenigen die sich beruflich als Lehreinnen und Lehrer und in anderen Zusammenhängen mit der Geschichte auseinandergesetzt haben, die wissen, dass die Bezeichnung „Pogromnacht“, Reichspogromnacht, lange Jahre in unseren Schulbüchern, so nicht enthalten war! Sondern dort wurde die nationalsozialistische Bezeichnung „Reichskristallnacht“ übernommen.  

Diese böse, bitterböse Bezeichnung, für das was an diesem Tag weitaus mehr passiert war und was gerade dargestellt worden ist, was zu Vertreibung und zu Mord geführt hat – in Lünen und in ganz Europa mit über 6 Mio. Toten allein im Bereich der jüdischen Bürgerinnen und Bürger. 

Und wir erinnern uns, Sie erinnern sich an die Gespräche, die dann doch mal mit den Eltern, mit den Großeltern zustande gekommen sind, wo dann Einzelheiten, Details erzählt wurden und das Ganze oftmals auch verbunden war mit dem Satz: 

„Ja, aber eigentlich wussten wir es nicht.“
„Wir wussten es nicht, dass das solche Dimensionen, und solche Größenordnungen angenommen hat.“

Ein Studienfreund von mir, der mit mir zusammen – auch mit Siggi Störmer, dem langjährigen stellvertretenden Bürgermeister der Stadt Lünen – Geschichte studiert hat, hat einmal für Dortmund untersucht, wie das denn eigentlich war, mit diesem „Wissen und dem Nichtwissen.“ Er hat ein Aufsatz geschrieben: „Öffentlichkeit und Judenvernichtung im Nationalsozialismus.“

Seine Bewertung ist eindeutig. Er schreibt über den Abtransport in den Osten: „Die Deportationen vollzogen sich in aller Öffentlichkeit. An ihnen waren regionale und kommunale Behörden intensiv beteiligt.“ 

Und ich kann Ihnen und will Ihnen und will mir das auch nicht ersparen, die mal zu nennen, die da beteiligt daran waren, weil es dann deutlich wird, wie es mit dem „Wissen und Nichtwissen“ war:

Gestapo Dortmund, Regierungspräsident Arnsberg, Landrat von Berleburg, Ortspolizeibehörden, Bürgermeisterämter, Gaststädte „Zur Börse“ in Dortmund, der ein Sammelpunkt war, Reichsbahndienststellen, Ernährungsamt, Speditionsfirmen, Bauunternehmen, Busunternehmen, Finanzämter, Meldeämter, die Deutsche Bank und andere und – nicht zu vergessen – schreibt er: die Dortmunder Öffentlichkeit – auf dem Weg der Deportation vom Hauptbahnhof zum Sammelpunkt.

Und das ist ja auch etwas gewesen – jetzt komme ich zum zweiten Anknüpfungspunkt – der die Schülerinnen und Schüler und die sie begleitende Lehrerin Frau Riekermann auch so getroffen und betroffen gemacht hat bei ihrer Arbeit um die Frage:

„Hat es auch in Lünen Zwangsarbeit gegeben?“

Wenn ja, wo haben denn diese Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter „gewohnt“, „gelebt“ (in Anführungszeichen) und das das ganze anscheinend so nicht bekannt war, obwohl es an mehreren Stellen im Stadtgebiet, stattgefunden hat und man es ja eigentlich hätte wissen müssen! 

Wir sind alle der Arbeitsgruppe „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ der Geschwister Scholl Gesamtschule, den Schülerinnen und Schülern und Frau Riekermann, außerordentlich dankbar dafür, dass sie deutlich gemacht haben, dass diese eigentlich überzeugende Hypothese, „das muss auch in der Industriestadt Lünen stattgefunden haben“, sich bewahrheitet hat. Mindestens 3.800 Menschen in sieben Lagern untergebracht, nicht versteckt, sondern mitten im Wohngebiet, die, die wir in Lünen leben, geboren sind, wissen wo diese Standorte waren und wo diese Standorte sind.

Lassen sie mich nochmal auf den Anknüpfungspunkt des eigenen Werdeganges zurückkommen: Ich habe in den Jahren um 2000 herum den damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Paul Spiegel, kennengelernt. Ein beeindruckender Mensch! Mit einer Überzeugungskraft, mit einem Einführungsvermögen, mit einem festen Willen, wie ich ihnen danach kaum wieder bei jemandem festgestellt habe. 

Und dann das Jahr 2003. Es war das dritte Jahr in der Zeitreihe von 2000 bis 2006. Also den Jahren, in denen die schrecklichen Morde des NSU stattgefunden haben. Weder Paul Spiegel wusste das, weder ich, viele andere nicht, welchen Zusammenhang es gab, bei den Morden. Aber in dieser, auch im Nachhinein so mörderischen Zeitphase, sprach Paul Spiegel davon, dass es wieder eine Renaissance des jüdischen Lebens in Deutschland gibt. Jüdisches Leben findet statt in Deutschland, in der Bundesrepublik Deutschland und in Nordrhein-Westfalen. Die Freude darüber war ihm anzumerken. Aber einen Tag nachdem im Landtag Nordrhein-Westfalen dazu eine Debatte stattgefunden hat, mit einem Antrag der damals von allen demokratischen Fraktionen des Landtages eingebracht wurde, sprach ich am Tag darauf mit ihm über seine eigene Sicherheit. 

Ob die Schutzmaßnahmen, die Sicherheitsmaßnahmen 2003 ausreichend waren, für ihn und viele andere jüdische Bürgerinnen und Bürger. 2003- 2021: der Bürgermeister hat vorhin erwähnt, die Dinge, die dazwischen passiert sind. 

Und deshalb, meine Damen und Herren, ist es so wichtig, dass wir uns darüber unterhalten müssen – „Was wussten wir? Was wussten wir nicht?“ – dass so etwas nie wieder passiert. 

Und insofern – wenn es einen Bürgerpreis der Stadt Lünen gibt – ich würde ihn, meine Damen und Herren, dieser Gruppe von Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern, die sie begleitet haben, überreichen, die erneut dafür gesorgt haben, dass wir in Lünen einen weiteren Punkt oder Orte des Erinnerns haben! Wie auch dieser Ort ja, der – sie werden sich erinnern – erstritten werden musste, als Mahnmal, ein Ort ist, in dem wir uns seit 1993 auch erinnern können, gedenken, so wie wir es heute auch tun. 

Wir haben Gott sei Dank eine Reihe von Orten und Anlässen geschaffen. Ich denke an das tolle Projekt „Kinder der Turnstunde“. Michael Kupczik, Jochen Otto von der Bürgermeister Harzer-Stiftung, und viele andere, die dort mitgewirkt haben, und das sei auch denjenigen gesagt, die oftmals in solchen Diskussionen davon sprechen: 

„Ist das jetzt nicht genug? Muss das jetzt nicht genug sein? Muss das nicht ein Ende haben?“ 

NEIN!!!

Es darf kein Ende haben, mindestens was das Erinnern, was das Gedenken anbelangt und nicht nur das, sondern auch was sich daraus ergibt und was wir daraus auch an Handeln tun müssen. 

Und das ist der Schritt vor dem wir jetzt in dieser Stadt stehen: Die Jugendlichen, die Schülerinnen und Schüler wollen ja nicht Schluss machen mit ihrer Arbeit, sondern haben einen Vorschlag gemacht, wie dort weitergedacht wird und ich würde es icherlich mit ihnen zusammen außerordentlich begrüßen, wenn die Gremien der Stadt Lünen, des Rates der Stadt Lünen, dieser Initiative auch folgen, ohne nun im Einzelnen schon festzulegen, wie dieses Gedenken aussehen soll. 

Aber ich glaube es würde dieser Stadt und uns allen gut tun, wenn wir diesen Schritt, den die Schülerinnen und Schüler vorgeschlagen haben, nun auch weitergehen. 

Meine Damen und Herren, wir haben in Berichten, im Fernsehen, in den Zeitungen vom hundertsten Geburtstag von Margot Friedländer gehört. 100 Jahre alt. Eine Überlebende, die mit 89 Jahren beschließt, ich übersiedle von New York wieder nach Deutschland, nach Berlin. 

Unvorstellbar(!), dass ein Mensch – ich sage jetzt mal – der in ganz anderen, „normalen“ Umständen aufgewachsen und gelebt hätte, einen solchen Schritt macht – und das macht eine Frau mit dieser Geschichte, mit eigener, erlebter Geschichte. 

Und sie hat in den Interviews, die sie gegeben hat und auch in den Erzählungen, in den Veranstaltungen, in den Schulen, die Sie besucht, auch deutlich erzählt, warum sie das macht. Ich darf das mal aus dem Bericht der Süddeutschen Zeitung so vorgetragen. Dort wird geschrieben über Margot Friedländer:

„Sie packt drei Mal die Woche ihre Tasche, liest aus ihrem Buch, beantwortet Fragen und irgendwann kommt der Moment in dem Sie zu den Jugendlichen sagt: 
Wenn ihr das gehört habt, werdet ihr Euch fragen, warum ich zurückgekommen bin? Ich bin zurückgekommen, um Euch die Hand zu reichen und Euch zu bitten, dass ihr Zeitzeugen seid, weil wir nicht mehr lange hier sein werden.“

Das ist glaube ich die Botschaft, die wir heute und anderen Orten des Gedenkens in Deutschland mitnehmen.

Ja, sie werden bald nicht mehr unter uns sein. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die am beeindruckendsten darstellen können, was passiert ist. 

Wir haben das bei verschiedenen Gelegenheiten hier in Lünen erlebt. Aber die Bitte, die sie äußert, hat mich bewegt!

Sie sagt nicht, „schreibt das auf, filmt das ab, macht Avatare in Museen“ – das passiert teilweise auch, soll möglicherweise so sein, als ein Weg – sondern Sie bittet die Jüngeren, den sie ausdrücklich sagt: „Eure Generation trägt keine Schuld, an dem was passiert ist.“ Sie bittet diese Jugendlichen: „Nehmt die Fackel als Zeitzeugen weiter und macht da weiter, wo ich, wenn ich mal sterbe, nicht weitermachen kann.“ 

Lassen sie uns das von Margot Friedländer für uns aufgreifen. Es wird notwendig sein, damit wir reagieren, auf das, was auch heute hier an diesem Mahnmal passiert ist. Indem wir uns bemühen, Rahmenbedingungen zu schaffen, im Zusammenleben, im Respekt voreinander, in der klaren und eindeutigen Auseinandersetzung mit denen, die dort anderer Meinung sind. 

Ende der 70er Jahre erschienen zum ersten Mal die Ergebnisse der so genannten Sinus-Studie. 

Über 13 % der Menschen in Deutschland – das war das Ergebnis dieser Sinus-Studie – haben einen gefestigten, rechtsextremistischen Kern. Meine Damen und Herren, es gibt keinen Rechtsextremismus ohne Antisemitismus! Auch das müsste klar sein, als Ergebnis dieser Studie. Diese Studie ist eine Zeitlang ausgesetzt worden, die Untersuchungen sind dann wieder aufgenommen worden. 

Bislang hat jede Sinus-Studie, die diese Fragestellung hatte, genau dieses Ergebnis gehabt!

13% und mehr der Menschen in Deutschland haben ein gefestigtes, rechtsextremistisches Gedankengut.

Meine Damen und Herren, das macht deutlich: Die Forderungen „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie wieder Antisemitismus“ ist keine von gestern, sie ist die von heute und auch der Zukunft. 

Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.

Junge Lüner erinnern an Pogromnacht

(Artikel aus den Ruhr Nachrichten vom 10. November 2018 – mit freundlicher Genehmigung)

Im Rahmen der Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht in Lünen hat die »Schule ohne Rassismus-AG« des Gymnasiums Lünen-Altlünen mit mehreren Aktionen auf das Thema aufmerksam gemacht. Abschließend hat die Schülerin Lorina Losch ihre literarischen Interpretationen auf der Gedenkveranstaltung vorgetragen.

Die tragischen Schicksale der Reichspogromnacht in Lünen

Eine Interpretation von Lorina Losch (Gymnasium Lünen-Altlünen)

Waldemar Elsoffer:

Hinter mir vernahm ich lautes Geschrei: „Raus mit den Juden! Raus mit den Juden!“ Ich drehte mich nicht um. Zu genau war mir die Gewalt auf dem Marktplatz in Erinnerung: das Feuer, die Schreie, das Lachen, das Klirren von kaputten Fenstern… Ich wünschte, es wäre vorbei, doch das war es nicht. Hinter Aronstein und mir tauchte ein weiterer S.A.-Mann auf, der sich Schmidt anschloss. Meckler, glaub ich, hieß er. Aber was taten Namen schon zur Sache? Für sie hießen wir doch auch nur ‚Juden‘. „Schneller!“, rief Schmidt hinter mir. Ich bemühte mich, die Straße der S.A schneller entlang zu gehen und mich nicht meiner lähmenden Angst hinzugeben. Ich fühlte mich wie ein Tier, getrieben von Menschen, deren Befriedigung im Leben es war, ihre Macht gegenüber denen, die nie etwas getan hatten, auszuleben. Tiere, die mit verabscheuungswürdigen Worten klassifiziert und mit allen anderen ihrer sogenannten „Rasse“ in den gleichen Käfig gesteckt wurden. Ich hatte es geahnt, nicht gewusst, aber geahnt. Dieses ungute Gefühl, das in mir herrschte, seit ich von der Ermordung von Ernst vom Rath durch Grynszpan gehört hatte. Er war ein Jude gewesen, das gefundene Fressen, um den Hass gegen uns nun noch brutaler als schon davor auszuleben. Als ob wir alle gleich wären. Als ob wir etwas dafür könnten, als was wir geboren sind. Als ob –
„Linksrum!“, riss mich eine wirsche Stimme aus den Gedanken. Vorsichtig hob ich den Kopf. Vor mir ragte die dunkle Silhouette der Lippebrücke empor, still und bedrohlich, wie sie vorher noch nie wirkte. Wie uns befohlen, bogen wir auf den Deich vor der Brücke ab. Am liebsten hätte ich Aronstein angeguckt, um zu sehen, ob er auch solch eine wahnsinnige Angst hatte wie ich, aber ich befürchtete eine weitere Bestrafung. Was würde nun geschehen? Was wollten sie uns nur erst antun, wenn sie den armen Feldheim schon ins Feuer gestoßen hatten?
„Rechtsrum und rein in den Bach!“, vernahm ich wieder diese vor Hass triefende Stimme Schmidts. Abrupt blieben wir stehen und starrten entsetzt in die dunkle, vor uns liegende Lippe. Das konnten sie doch nicht ernst meinen. Es war November, die Lippe hatte bestimmt noch nicht mal 5°C und es war stockfinster. Aber sie meinten es ernst. Das wurde mir klar, als ich, schneller als es zu realisieren war, mit einem Ruck über die Ligusterhecke hinweg flog und bis kurz vor der Lippe den Deich hinabrollte. Bis ich verstehen konnte, was gerade passiert war und ich mich wieder aufgerappelt hatte, mussten ein paar Minuten vergangen sein, denn nun stand Aronstein neben mir und ergriff mit zitternden Fingern meine Hand. Zusammen blickten wir auf das tiefe, dunkle Wasser vor uns, was in seichten Bewegungen hin und her schwank. Was eine Kontroverse, verbarg sich in den Bewegungen doch so viel Tückisches. Ich wollte da nicht rein, wollten wir beide nicht, doch Schmidts energische Stimme schnitt wieder durch die Nacht: „Rein da jetzt, durch den Jordan und wieder zurück!“ Was blieb uns also anderes übrig? Ja, meine Damen und Herren, was hätten wir anders machen können, um dieser Tragödie zu entkommen? Es war unmöglich sich gegen die Nationalsozialisten aufzulehnen. Wir wurden als Parasit beschrieben und genauso behandelt und klein getreten. So stiegen wir ins eiskalte Nass der Lippe. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht in Schnappatmung zu verfallen und mich unkontrolliert zu bewegen. Die Kälte so gut wie möglich ignorierend, schwamm ich los. Weit kam ich nicht, da riss es mich von meiner Stelle weg. Wasser brach über meinem Kopf zusammen. Verzweifelt versuchte ich wieder an die Oberfläche zu kommen, doch länger als ein paar Sekunden schaffte ich es nie, an der Oberfläche zu bleiben. Wie verrückt versuchte ich, das Ufer auszumachen, aber ich schaffte es nicht. Je länger ich versuchte zu kämpfen, desto mehr sackte ich ab. Das Wasser war über mir, unter mir, rechts und links von mir. Überall um mich herum eiskaltes Wasser. Wo war oben, wo war unten? Wo musste ich hin? Meine Lungen begannen zu brennen, alles in mir schrie nach Luft. Ich würde sterben, wenn ich keine Luft mehr bekam. Ich würde sterben! Diese Erkenntnis brannte sich wie nichts Schrecklicheres davor in mich ein. Was würde aus meiner Familie werden? Ich musste doch auf sie aufpassen, wie sollten sie sonst nur in dieser grausamen Welt überleben? Doch ich würde sterben! Müdigkeit brach über mich herein, meine Glieder wurden schwach und trotz, dass ich es nicht wollte, öffnete sich mein Mund. Wasser drang in mich ein, füllte meine Lungen, aber das war in Ordnung. Egal, wo ich jetzt hinkommen würde, nichts konnte schlimmer sein, als das, was hier in Lünen geschehen war. Nichts konnte schlimmer sein, als das, was in ganz Deutschland geschehen war. Doch was blieb, war meine Familie, allein gelassen von mir in einem hasserfüllten Land, gegenüber aller derer, die nicht ihren Werten entsprachen. Was, wenn das alles erst der Auftakt gewesen war? Ich begann zu beten, dass auch meine Familie einen besseren Ort finden würde, während um mich herum alles schwarz wurde.

Siegmund Kniebel:

Ein Riesenkrach riss mich aus dem Frieden meiner Träume. Krampfhaft versuchte ich zu begreifen, was hier vor sich geht, als es laut klirrte. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich gedacht, dass gerade eine große Scheibe Glas zerbrochen wurde. Dann waren da Stimmen. Viele Stimmen. Laute Stimmen. Aufgebrachte, hasserfüllte Stimmen. Zu den Stimmen gesellte sich weiteres Klirren, dumpfe Aufschläge, Geschabe, Gekratze. Man könnte meinen, Gegenstände wurden durch die Gegend geschoben, weggeworfen und kaputt gemacht und zwar direkt unter mir. „Boom, Boom“ – und jetzt waren da Schüsse. Schüsse vor meinem Fenster, Schüsse unter mir, Schüsse überall. War das ein Traum oder schoss das Schwein durch die Decke?
Und plötzlich ging alles so schnell. Just in dem Moment, in dem meine Tochter in unser Schlafzimmer kam und sich in die zitternden Arme meiner Frau warf, die vom Lärm ebenfalls aufgeschreckt, schlotternd und bangend neben mir im Bett lag, brach mit einem lauten Knax unsere Wohnungstür auf. Drei vermummte Gestalten traten ins Schlafzimmer und während ich mich noch aufrichten wollte, um mich davon zu überzeugen, dass das alles hier doch ein schlechter Traum war, schrien sie: „Jude Kniebel, im Bett bleiben!“ Neben mir begann meine Tochter zu wimmern. „Wenn Sie ruhig sind, dann tun wir Ihnen gar nichts.“, sagte eine der Gestalten. Dann plötzlich, direkt auf die Beruhigung folgend, war da ein Knall. Nein, nicht einer, zwei, vielleicht drei oder vier. Ohrenbetäubend laut fraßen sie sich so unwirklich in meinen Verstand wie das ganze Geschehen. Erst als ich die Nässe an meinem Bauch spürte, das Rot an meiner Hand sah und die schnellen sich entfernenden Schritte meiner immer noch wimmernden Tochter hörte, wurde mir langsam bewusst, was passiert war. Und während das Einatmen mir immer schwerer fiel, komisch röchelnde Laute aus meiner Kehle immer lauter wurden und eine bleierne Müdigkeit meine Augenlieder immer schwerer machte, wurde mir klar, dass jede versprochene Hilfe zu spät kommen würde, denn ich war Jude gewesen, ein Parasit, den es zu beseitigen galt und das hatte man getan, ungeachtet der Situation, ungeachtet des Menschen, der ich bin. Einfach nur, weil ich Jude bin.

Albert Bruch:

Mit größter Vorsicht lugte ich beunruhigt durch die schmalen Spalten der Jalousien in meinem Schlafzimmer. Der Blick, der sich unter mir auf der Straße zeigte, war brutaler als alles, was ich mir jemals hätte vorstellen können. Auf der Straße war eine riesen Ansammlung an Menschen. Vermummte Gestalten, Gestalten in Uniform, Gestalten in Zivil. Alle hatten sie sich vor Kniebels und meinem Laden versammelt und alle strahlten sie so eine Gewaltbereitschaft aus, dass ich nicht mal mehr um mein Leben bangen konnte, da der Tod mir schon so gewiss war, wie mir noch nie etwas gewiss gewesen ist. Der Asphalt der Straße war voller Glasscherben. Wie funkelnde Kristalle glitzerten sie im Mondlicht und wären nicht die aufgebrachten Menschenmassen gewesen und die Gegenstände, die im regelmäßigen Abstand aus Kniebles oder meinem Laden folgten, wäre es fast so gewesen, als wollen mir die Glasscherben eine ehrenvolle Sterbekulisse bieten. Doch das Wort ehrenvoll in Verbindung mit den Nationalsozialisten zu nennen, wäre die allergrößte Lüge gewesen, denn Menschen auf etwas abzustufen, wofür sie nichts können und was in keinster Weise etwas mit ihrem Charakter zu tun hat, Menschen deswegen weh zu tun, seelisch sowie körperlich, sie gar zu töten, ist das Feigste, was es nur gibt. „Was wollen Sie hier?“, fragte ich den Mann, der mit solch einer Unverfrorenheit, wie es nur ein Feigling tun konnte, mit lautem Krachen in mein Schlafzimmer eingedrungen war. Ich hätte ihn noch gerne gefragt, ob er nun wirklich den letzten Schritt zur Feigheit und Schwäche machen wollte, doch da zog er seine Pistole und besiegelte sein Schicksal selbst und ich starb. Weil ich Jude bin. Und ich starb mit Stolz geschwellter Brust, nicht weil ich Jude war, sondern weil ich mit der Gewissheit starb, dass ich friedlich neben meinem Peiniger hätte wohnen können, er es aber nicht konnte.